Alt Rehse und der gebrochene Eid des Hippokrates
Alt Rehse ist mir aus meinen Kinderzeiten als verwunschener Ort bekannt, um den wir bei unseren Ausflügen an den Tollensesee immer einen großen Bogen machten. Wenn ich nach Alt Rehse fragte, wurde mir der Mund zugehalten, als wenn ich etwas Unanständiges sagte. Der Mantel des Schweigens fiel bleiern auf den Ort.
In diesem Ort wurde von 1935 bis 1945 die reichsweit beispiellose Einrichtung für die Indoktrination der deutschen Ärztinnen und Ärzte, Hebammen, Apothekerinnen und Apotheker und der Amtsärztinnen und Amtsärzte errichtet und betrieben.
Hier wurden die Helfershelfer für die rassenhygienischen Zielstellungen der Nazis geschult und ausgebildet. Die „Führerschule der deutschen Ärzteschaft Alt Rehse“ wurde von vielen führenden Nationalsozialisten besucht und nahm innerhalb der ärztlichen Fortbildung im „Dritten Reich“ eine zentrale Rolle ein. Hier wurden den Schulungsteilnehmerinnen und -teilnehmern grundlegende Kenntnisse über die weltanschaulichen und rassenpolitischen Zielsetzungen der NS-Gesundheitspolitik vermittelt.
Auf der Grundlage von „Eugenik“ bzw. „Rassenhygiene“ wurde von den Dozenten eine Gesundheitspolitik verbreitet, die zu den gesetzlich vorgeschriebenen Zwangssterilisationen an „rassisch minderwertigen“ und angeblich „erblich belasteten“ Menschen bis hin zum tausendfachen Mord an Patientinnen und Patienten in den Heil- und Pflegeanstalten führte.
Damit wurden solche Aktionen wie T4 ideologisch vorbereitet und die Grundlagen für den Mord an Patientinnen und Patienten gelegt. Mediziner als Anzeigendende, als Richter und als Vollstrecker!
Diese schreckliche Wahrheit erfuhr ich erst 45 Jahre später, bei einem Besuch der Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte in Alt Rehse.
Zusammen mit 22 Mitgliedern des Allgemeinen Behindertenverbandes in Mecklenburg-Vorpommern e.V. wollten wir uns am 23. Oktober 2004 über die Ausstellung informieren.
Als ich die Ausstellung im Ort suchte bin ich zweimal vorbei gefahren, weil ich einfach nicht glauben wollte, dass die Ausstellung nur über eine baufällige Treppe zu erreichen ist. Entsetzen machte sich breit, wie in meinen Kindertagen, denn ich fühlte mich als Mensch behindert und diskriminiert.
Der eisige Geist der Geschichte kroch mich wieder an, die Endlösung!
Viele unbeantwortete Fragen drängten sich auf einmal vor!
Erlittene Willkür und Gewalt, das Aushebeln demokratischer Grundrechte, das Vorenthalten einfachster Bürgerrechte, die Separierung und Ausgrenzung von „Unwerten“, die Allmacht des Gesundheitsapparates und der Mediziner, die finanzielle und strukturelle Benachteiligung von Menschen, die unerfüllten Lebensträume in zwei Systemen nach dem untergegangenen Tausendjährigen Reich.
Welche Lebens- und Teilhabechancen haben heute ein Mensch, ein Kind, ein Jugendlicher, eine Frau oder ein Mann, wenn er/sie/es nicht der Norm entspricht? Was machen die Nazis schon wieder in den Parlamenten?
Haben wir die Vergangenheit schon aufgearbeitet und überwunden oder steht sie uns wieder bevor, die Endlösung?
Wir fanden doch noch einen Anfang, im Dorfgemeinschaftshaus!
Ein Videogerät, einige Kopien und eine Diskussionsrunde. Trotz des Engagements des Mitarbeiters der Begegnungsstätte haben wir wohl an diesem Tag – Alle – die Diskriminierung und die latente Behindertenfeindlichkeit in dieser Gesellschaft mit allen Sinnen erfahren.
Der Eid des Hippokrates
Der Eid des Hippokrates (um 460 bis 377? vor Chr.) ist ein beeindruckendes Zeugnis vorchristlicher, medizinischer Ethik. Der Eid, weniger im Wortlaut als im Sinne, bestimmte über viele Jahrhunderte die Haltung der Ärzte niemals zu töten.
Nach dem Zerfall des Dritten Reiches wurde offenbar, dass Ärzte an den unmenschlichen Versuchen mit Behinderten und Geisteskranken beteiligt waren und sie todbehandelten. Aus dieser Situation heraus wurde das Genfer Gelöbnis formuliert. Es sollte die Ärzteschaft davor bewahren ein weiteres Mal ihre ethischen Grundlagen zu verlassen.
(Genfer) Gelöbnis: Für jeden Arzt gilt folgendes Gelöbnis:
„Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben. Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit meiner Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein. Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse wahren. Ich werde mit allem meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten und bei der Ausübung meiner ärztlichen Pflichten keinen Unterschied machen, weder nach Religion, Nationalität, Rasse, noch nach Parteizugehörigkeit oder sozialer Stellung. Ich werde jedem Menschenleben von der Empfängnis an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden. Ich werde meinen Lehrern und Kollegen die schuldige Achtung erweisen. Dies alles verspreche ich feierlich auf meine Ehre“.
Das Genfer Gelöbnis wurde 1949 in Genf vom Weltärztebund beschlossen.