In was für einer Gesellschaft wollen wir leben?

Von admin|29. Mai 2006|Aktuelles aus der Verbandsarbeit|

In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Diese Frage stand am Sonnabend, am 27. Mai, in Neubrandenburg ganz oben auf der Tagesordnung. Es war kein Zufall, dass die Bürger/innen des Reitbahn- und Vogelviertels sich auf Beschluss des Verwaltungsgerichtes Greifswald an diesem Tag dumpfe faschistische Parolen anhören mussten und sich im eigenem Wohngebiet, in der eigenen Stadt nicht mehr sicher fühlen konnten. Deutschland ist in schlechter Verfassung und es gibt vielfältige neofaschistische Aktivitäten und rechte Gewalt, die rassistisch motiviert sind und sich auch gegen behinderte Menschen richten. Angst und Schrecken werden verbreitet und Menschen werden schon wieder im öffentlichen Raum totgeschlagen. Die Politik schaut zu oder verharmlost die Gewalttaten als in aller Regel durch Alkoholeinfluss verursacht!

Heute lese ich in der Zeitung, die Bundeskanzlerin, Frau Merkel, fordert mehr Zivilcourage gegen rechte Gewalt und rechtes Gedankengut.

Gut dass die Neubrandenburger sich zur Wehr setzten und den Rechtsextremisten an diesem Tag keine Chance ließen. Es war auch kein  Zufall, dass der Allgemeine Behindertenverband in Mecklenburg-Vorpommern e.V. zusammen mit der Friedrich-Ebert-Stiftung sich an diesem Tag zu einer Tagung in Neubrandenburg traf, um die
Behindertenpolitik auf dem Prüfstand zu stellen und im Rückblick auf die jüngste deutsche Geschichte die gegenwärtige Situation zu analysieren. Dass der Aufmarsch und die Veranstaltung „Erinnern, Gedenken, Helfen, Gestalten – Behindertenpolitik auf dem Prüfstand“ am gleichen Tag stattfanden, war ein Zufall. Ein Zusammenhang sei angesichts der Aufrüstung der NPD aber durchaus gegeben, wie Dr. Martin Just von der Friedrich-Ebert-Stiftung bei seiner Begrüßung vor 35 Teilnehmern hervorhob. Diese Zusammenhänge sollten im Laufe der Tagung in vielfältiger Weise sichtbar werden.

Das unheilvolle Erbe – die Führerschule Alt Rehse -, in der Hitlers Helfer für die rassenhygienischen Ziele der Nazis ausgebildet wurden. Ärzte, Hebammen, Apotheker, Amtsärzte als Heiler und Henker.

Über 400 000 Opfer, die bis heute noch immer nicht als Opfer der Nazibarbarei anerkannt sind und statt dessen werden Überlebende und Angehörige schon wieder in unserer Gesellschaft stigmatisiert, wie Frau Hamm berichtete.

61 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus werden die Opfer von Zwangssterilisation und Patientenmorden in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht als NS – Verfolgte anerkannt. Sie kämpfen um ihre Rehabilitation, da das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, das sie als „lebensunwert“ selektierte und ihre Lebenswege zerstörte, nach über 70 Jahren immer noch nicht aufgehoben wurde, deshalb führt der Bund der „Euthanasie“ – Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V. z.Z. eine Postkartenaktion „Weg mit den NS- Rassengesetz!“ durch.

Kontinuität aber auch in der DDR – Ausgrenzung, Separierung und Sonderbehandlung der „Euthanasieopfer“ und Zwangssterilisierten in Anstalten. Als Opfer wurden nur Antifaschisten anerkannt!

Wer die Opfer nicht anerkennt, zieht keine Lehren aus der Geschichte und befördert heute, bewusst oder unbewusst, erneut Ausgrenzung, Verfolgung und Selektion. Auch aus diesem Grund ist die rechtliche Gleichstellung und die uneingeschränkte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in der Gesellschaft eine nicht mehr aufschiebbare politische Forderung!

“Selbst ein SED-naher Behindertenverein durfte nicht gegründet werden”, wie Matthias Vernaldi erinnerte. “Erst die Wende eröffnete uns die Möglichkeit, die eigenen Geschicke in die Hände zu nehmen und die Gesellschaft mit zu gestalten. Es gab durchaus Verbesserungen für schwerstbehinderte Menschen, wenngleich es sicherlich immer schwierig war und ist, seine individuellen Ansprüche durchzusetzen“.

Allerdings müssen wir heute schon wieder aufpassen, dass die Errungenschaften des Sozialstaates nicht dem Rotstift und den vielen Reformen zum Opfer fallen.

Das Normalisierungsprinzip in der sozialen Arbeit – hat wie Enzio Dressel ausführt, zu keinem Paradigmenwechsel in der Behindertenarbeit geführt. Noch immer werden in Deutschland Anstalten und Heime besonders für Behinderte gebaut, inzwischen sind es 160 000 Plätze! Aber auch ältere Menschen werden in Pflegeheime abgeschoben, obwohl die ambulante häusliche Versorgung Vorrang haben sollte. Dagegen hat man in Schweden wirklich mit dem Normalisierungsprinzip ernst gemacht und kommt ohne Anstalten aus.

Chancengleichheit für ALLE – ist in unserer Gesellschaft noch immer keine Realität. Für die Ausgliederung von behinderten Menschen werden 92 % der sogenannten Eingliederungshilfen verwendet, dies sind immerhin 9,1 Milliarden Euro im Jahr 2004.

Dagegen wird die Einführung des trägerübergreifende Persönliche Budget nach SGB IX von den Behörden, den Politikern und der Wohlfahrtslobby gerne sabotiert und ein Landesbehinderten- gleichstellungsgesetz für Mecklenburg-Vorpommern wird seit 4 Jahren diskutiert und diskutiert! Wir fordern von den politisch Agierenden konsequente Maßnahmen und Gesetze, damit die rechte Gewalt endlich ein Ende hat und nicht Neonazis in deutschen Städten wieder aufmarschieren und den BürgerInnen und unseren Gästen Angst machen können.

Mit Demokratie hat dies wahrhaftig nichts zu tun!
Wir solidarisieren uns mit den Forderungen aller Opfer der Nazibarbarei nach Anerkennung und Entschädigung!

Eine stärkere Beteiligung behinderter und älterer Menschen an der derzeitigen Ethik- und Wertedebatte ist notwendig, damit nicht über unsere Köpfe hinweg entschieden wird. All zu oft müssen wir Ungereimtheiten in der Gesundheitspolitik, in der Rentenpolitik, in der Landes- und  Kommunalpolitik hinnehmen, häufig sind wir von Einsparungen und Kürzungen zuerst betroffen.

Viele behinderte und ältere Menschen können aus ihren eigenen Erfahrungen wertvolle Beiträge zu einer zukunftsorientierten Gesellschaft leisten. Wir müssen uns also einmischen und uns nicht aufs Altenteil ins Pflegeheim, in Sonderbehand- lungseinrichtungen oder an den Rand der Gesellschaft abschieben lassen und werden Veranstaltungen organisieren oder an ihnen teilnehmen, um uns verstärkt in die Diskussion einzuschalten, in welcher Gesellschaft wir zukünftig leben wollen.

Am Rande der Tagung konnten Interessenten mit einem behindertengerechten Bus nach Alt Rehse fahren. Herr Hansen, als neuer Miteigner, zeigte uns den „Lebenspark“ wie er ihn sieht, ein Erbe antretend voller Ideen und Tatkraft!

Es wird die Aufgabe des Vereines für die Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse e.V. bleiben, das die unselige Geschichte der Ärzteführerschule aufgearbeitet und nicht vergessen wird!

Nachbetrachtung von Peter Braun, 29.05.06