Der vergessene Eid des Hippokrates
Alt Rehse ist mir aus meinen Kinderzeiten als verwunschener Ort bekannt, um den wir bei unseren Ausflügen an den Tollensesee immer einen großen Bogen machten. Wenn ich nach Alt Rehse fragte, wurde mir der Mund zugehalten, als wenn ich etwas Unanständiges fragte. Der Mantel des Schweigens lag über dem Ort.
In diesem Ort wurde von 1935 bis 1945 die reichsweit beispiellose Einrichtung für die Indoktrination der deutschen Ärztinnen und Ärzte, Hebammen, Apothekerinnen und Apotheker und der Amtsärztinnen und Amtsärzte errichtet und betrieben. Hier wurden die Helfershelfer für die rassenhygienischen Zielstellungen der Nazis geschult und ausgebildet. Die „Führerschule der deutschen Ärzteschaft Alt Rehse“ wurde von vielen führenden Nationalsozialisten besucht und nahm innerhalb der ärztlichen Fortbildung im „Dritten Reich“ eine zentrale Rolle ein. Hier wurden den Schulungsteilnehmer*innen Kenntnisse über die weltanschaulichen und rassenpolitischen Zielsetzungen der NS-Gesundheitspolitik vermittelt.
Auf der Grundlage von „Eugenik“ bzw. „Rassenhygiene“ haben die Dozenten eine Gesundheitspolitik verbreitet, die zu den gesetzlich vorgeschriebenen Zwangssterilisationen an „rassisch minderwertigen“ und angeblich „erblich belasteten“ Menschen bis hin zum tausendfachen Mord an Patientinnen und Patienten in den Heil- und Pflegeanstalten führte.
Damit wurden solche Aktionen wie T4 ideologisch vorbereitet und die Grundlagen für den Mord an Patientinnen und Patienten gelegt. Mediziner als Anzeigende, als Richter und als Vollstrecker!
Über die „Führerschule der deutschen Ärzteschaft Alt Rehse“ haben die Sowjetische Besatzungsmacht, die DDR Regierung, die Bezirksverwaltung Neubrandenburg, die Bundesregierung, das Land MV sowie die neuen und alten Einwohnern in Alt Rehse den Mantel des Schweigens gelegt, sie haben fast alle verharmlost, verschwiegen, vergessen und verdrängt! . Die Verdrängung fand in Ost und West gleichermaßen statt.
72 Jahre mussten die Opfer von Zwangssterilisation und Patientenmorden in der Bundesrepublik Deutschland darum kämpfen, als NS – Verfolgte anerkannt und rehabilitiert zu werden. Das „Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes vom 18. Oktober 1935“, auf dessen Grundlage Menschen als „lebensunwert“ selektierte und ihre Lebenswege zerstörten, ist erst im Jahr 2007 vom Bundestag (Drucksache 16/3811) geächtet worden.
Am 27. Januar 2019, zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“, musste ich wieder um Alt Rehse einen Bogen machen, weil ich mit meinem Rollstuhl dort keine Chance hatte, an der Andacht für die Opfer in der Kirche teilzunehmen, genauso komme ich noch immer nicht in die Erinnerungs-,Bildungs- und Begegnungsstätte im alten Gutshaus. Leider ist es dem Verein bisher nicht gelungen Ärzteschaft, Stiftungen oder auch die Politik von der Bedeutung dieses Gedenkortes und von den Umbauplänen zu überzeugen.
Aber Gott sei Dank konnte ich am 27. Januar, wenigsten am 2. Programmpunkt am Nachmittag, im Dietrich-Bonhoeffer Klinikum Neubrandenburg dabei sein. Besonders hat mir der Beitrag von Frank Hammerschmidt, aus dem Herzen gesprochen. Er hat es verstanden, aufzuzeigen, wie die Wurzeln aus der Vergangenheit in das hier und heute hineinwachsen.
„Seid wachsam, schützt unsere demokratischen Errungenschaften und lasst Euch nicht hinreißen Gewalt mit Gewalt zu beantworten“.
Aufgeschrieben und fotografiert: P. Braun.